H. Alrichter u.a. (Hrsg): Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.

Cover
Titel
Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Altrichter, Helmut; Walther L. Bernecker
Erschienen
Stuttgart 2004: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
448 S
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Hauser

Auch heute noch wird es nicht nur positiv vermerkt, wenn man als Wissenschafter allgemeine Überblicksdarstellungen publiziert. Komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge für ein breites Publikum auf den Punkt bringen und leicht verständlich beschreiben, ist indes nicht minder anspruchsvoll wie das Forschen selbst. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn es um ein Thema geht, wie es sich die beiden Autoren des hier zu besprechenden Buches vorgenommen haben: Die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert auf 400 Seiten zu schildern, ist ein äusserst ambitiöses Unterfangen.

Die Studie behandelt in der ersten Hälfte die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Den zweiten Teil widmet sie der Nachkriegsordnung und der Entstehung des neuen Europa von der Anerkennung der Grenzen durch Gewaltverzicht durch die Regierung Willy Brandts bis zur Osterwei terung der EU in den Jahren nach dem Fall der Mauer. Es folgen eine 15-seitige Chronologie und ein rund 25-seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis.

Das Buch hat seine Stärken dort, wo es thematisch oder chronologisch eher unkonventionelle Darstellungsansätze wählt: Dazu zählen unter anderem die Kapitel «Spanien: Vom Kolonialdesaster zum Bürgerkrieg», «Südeuropa: Diktaturen ‘im Schatten der Weltpolitik’» oder die «Wiederentdeckung ‘Mitteleuropas’ in Osteuropa» gegen Ende des Jahrhunderts. Hier kann man sich auf knappem Raum über Fakten informieren, die man sich sonst meist umständlich zusammensuchen muss. Zudem werden Querbezüge möglich, die den Blickwinkel erweitern und so vielleicht auch neue Fragestellungen ergeben.

Gleich mehrfach sind indes auch Vorbehalte anzubringen. Bei einem als Überblicksdarstellung konzipierten Buch, das als solches ebenfalls als Lehr- und Lernmittel Verwendung finden wird, würde man zunächst mehr Detailgenauigkeit erwarten: So hiess der im Frühjahr 1958 amtierende französische Ministerpräsident Pflimlin und nicht Primlin (S. 230, 445). In der Bibliographie sucht man vergebens nach dem im Text angeführten Autor Verhey (S. 42). Unzutreffend ist, dass der Abessinienkrieg «jede Kooperation» Italiens mit den beiden «westlichen Demokratien » Europas «beendet» (S. 104) hätte: Wie korrekt etwas später festgehalten wird (S. 141), schloss Grossbritannien 1937 ein Abkommen mit Mussolini, das die Einflusssphären beider Staaten im Mittelmeerraum festschrieb. Verschiedentlich lassen auch die Formulierungen zu wünschen übrig. So stösst man bei der Schilderung des «Anschlusses» von 1938 auf den Satz: «Weit stärker als im Altreich war in Österreich eine antisemitische Grundstimmung verbreitet» (S. 182). Von der Sprache einmal abgesehen, würde man sich wünschen, dass anstelle von derart unzulässig grob verallgemeinernden Pauschalisierungen auf neuere Erklärungsansätze verwiesen wird, wie sie beispielsweise in Saul Friedländers Standardwerk zur Judenverfolgung im Dritten Reich zu finden sind1. Wohl auch etwas rasch hingeschrieben wurde die Bemerkung, dass Marschall Pétain 1940 im «Wald von Compiègne» einen Waffenstillstandsvertrag unterzeichnen «musste» (S. 170): Pétain selbst war in Compiègne nicht zugegen, und irreführend ist vor allem, dass er den Vertrag, den nicht er signierte, hätte unterzeichnen müssen: Gegen den Widerstand anderer hatte er vielmehr gezielt auf den Abschluss eines Waffenstillstands hingewirkt. Es macht auch keinen Sinn, kommentarlos anzuführen, dass die Unterzeichnung des Vertrags im Wald erfolgte. Wichtiger wäre hier die Information, dass es sich bei diesem Ort um einen prominenten lieu de mémoire handelt – an eben dieser Stelle hatte das deutsche Kaiserreich 1918 vor Frankreich und seinen Verbündeten kapituliert –, und dass Hitler hier einen viel beachteten Auftritt der Demütigung Frankreichs inszenierte, der den eigentlichen Höhepunkt seiner Politik «der Rache für Versailles» markierte2.

Nicht immer überzeugend ist sodann die thematische Gewichtung. Setzt man sich das Ziel, «in den Mittelpunkt zu stellen, was Europa bewegte» (S. 9), dann darf die nachhaltige «Neudefinition der Beziehungen zwischen den Geschlechtern» (S. 394), wie sie für das letzte Viertel des Jahrhunderts prägend war, nicht nur in einem knappen Nebensatz zur Sprache kommen. Sieht man dann genauer hin, so stellt man fest, dass es den Autoren primär darum geht, von der wechselvollen politischen Geschichte zu berichten. Man müsste in diesem Fall aber eingangs definieren, wofür der Begriff «Europa» steht. Geht es in erster Linie um die EU und ihre Vorgeschichte, oder richtet man den Blick auf einen Raum, der sich von Island und Marokko bis zum Eismeer und zum Roten Meer erstreckt? Es ist ja durchaus legitim, wie Altrichter und Bernecker dies tun, bei den Staaten der EG, der Gemeinschaft selbst und beim EWR einen Hauptschwerpunkt zu setzen, nur dürften dann grundlegende Änderungen, wie sie beispielsweise Margaret Thatchers Politik für Grossbritannien zur Folge hatte, nicht bloss nebenbei behandelt werden. Auch sollte man im Text Fakten und Zäsuren von epochalem Stellenwert wie den «Zwei-plus-Vier-Vertrag» von 1990 nicht einfach übergehen.

Anstelle der bipolaren Nachkriegsordnung, halten die Autoren am Schluss des Buches fest, sei eine neue Unübersichtlichkeit getreten, was ebenfalls für die Entwicklung der erweiterten EU zutreffe. Ergänzend wäre hier vielleicht hinzuzufügen, dass dies auch in der Geschichtsschreibung zum Ausdruck kommt. Das ist eine Feststellung, mehr nicht. Historiographie spiegelt immer auch den Kontext ihrer Zeit.

1 Das Dritte Reich und die Juden. Erster Band: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, deutsche
Ausgabe, München 1998, S. 268f
2 Der Journalist William L. Shirer, der Hitler beim Betreten der Waldlichtung beobachtet hatte, hielt in seinem Tagebuch fest: «Ich habe dieses Gesicht viele Male in den grossen Momenten seines Lebens gesehen. Aber heute! Es spiegelt Spott, Zorn, Hass, Rachsucht, Triumph wider.» Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Band II, München/Zürich 1963, S. 800.

Zitierweise:
Benedikt Hauser: Rezension zu: Helmut Altrichter, Walther L. Bernecker: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Stuttgart, Kohlhammer, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 247-249.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 247-249.

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